Christiane Hütte im #Monotalk Über Gemeinwohl-Bilanz in der Hotellerie

Christiane Hütte hat das Hotel Villa Orange im Jahr 2000 eröffnet. © Andre Lenthe Fotografie

Christiane Hütte hat im Jahr 2000 in Frankfurt am Main das persönlich geführte Boutiquehotel Villa Orange eröffnet. Im Gespräch mit Tophotel erläutert sie, weshalb sie vor zwei Jahren beschloss, eine Gemeinwohl-Bilanz für ihr Hotel zu erstellen, welcher Aufwand dahintersteckt, was dabei genau geprüft wird und warum sie glaubt, dass der Bilanzierungsprozess auch für andere Hotels ein lohnender Schritt sein könnte.
Tophotel: Frau Hütte, wie sind Sie auf das Thema Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) aufmerksam geworden?
Christiane Hütte: Ich habe mein Unternehmen von Beginn an nach ethischen Grundsätzen ausgerichtet und bin beispielsweise schon lange im Netzwerk Achtsame Wirtschaft (NAW) aktiv. Außerdem ist die Villa Orange seit 2009 Mitglied bei der Wertegemeinschaft der Biohotels. Somit engagiere ich mich schon seit längerem im Bereich Nachhaltigkeit. Als ich hörte, dass der österreichische Autor Christian Felber 2010 als Vision das Konzept eines alternativen Wirtschaftssystems entwickelt hat, war ich sofort daran interessiert.
Ich fand den Gedanken spannend, nicht den Gewinn, sondern das Gemeinwohl zum obersten Ziel der Villa Orange zu ernennen. Die Hotellerie ist eine sehr konservative und vom Wachstum getriebene Branche. Die Gemeinwohl-Ökonomie dagegen beruht auf Gemeinwohlstreben und Kooperation. Gerade angesichts des drohenden Klimawandels und der endlichen Ressourcen sollten die Paradigmen Wirtschaftswachstum und Gewinnmaximierung endlich infrage gestellt werden. Stattdessen sind schon wieder die nächsten Hotelprojekte in der Pipeline. Es wäre wirklich wünschenswert, wenn die Idee der Gemeinwohl-Ökonomie mehr Einzug in die Hotellerie hielte.
Was ist das Besondere an der Gemeinwohl-Ökonomie?
Die Gemeinwohl-Ökonomie ist ein Wirtschaftsmodell, in dem das gute Leben für alle das oberste Ziel ist. Kern des Modells ist, dass Unternehmen, die nachhaltig und sozial wirtschaften, in einer Gemeinwohl-Ökonomie im Vorteil sind. Normalerweise bilanziert ein Unternehmen nach Gewinn und Verlust. Die Gemeinwohl-Bilanz misst Erfolg nach neuen Maßstäben: Nicht der Finanzgewinn ist oberstes Ziel, sondern die Mehrung des Gemeinwohls. Die Gemeinwohl-Bilanz soll aber nicht die Geld-Bilanz ersetzen, sondern ergänzen! Die Bilanzierung macht uns bewusst, wo wir in Sachen Gemeinwohl stehen. Eine solche Bilanz zu erstellen ist ein spannender Prozess mit kontroversen Fragestellungen, der neue Impulse setzt.
Wie läuft die Erstellung einer Gemeinwohl-Bilanz konkret ab?
Der individuelle Beitrag zum Gemeinwohl wird auf Basis der Gemeinwohl-Matrix definiert und bewertbar gemacht. Die fünf Unternehmens-Berührungsgruppen Lieferanten, Eigentümer und Finanzpartner, Mitarbeiter, Gäste/Kunden und Mitunternehmen sowie das gesellschaftliche Umfeld werden geprüft und in Bezug auf die vier Werte Menschenwürde, Solidarität und Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit sowie Transparenz und Mitentscheidung bewertet. Für alle Aktivitäten in diesen Bereichen werden Punkte vergeben, sobald sie über die gesetzlichen Mindeststandards hinausgehen. Man kann aber auch Minuspunkte bekommen, zum Beispiel wenn man umweltschädigende Produkte verkauft oder Gewinne in Steueroasen verschiebt.
Die Bilanz ermittelt den Ist-Zustand des Unternehmens. Eine Vision der Bewegung ist auch, dass Unternehmen, die dabei gut abschneiden, von der Politik belohnt werden, etwa in Form niedrigerer Steuern oder durch Vorrang bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen.
Wer hat Sie bei der Erstellung der Bilanz unterstützt?
Beim ersten Durchgang wurde der Bericht in Peer-Evaluation mit den damaligen Biohotel-Kollegen vom Hotel Kunstquartier Stein aus der Nähe von Nürnberg und dem Hotel Tannerhof aus Bayrischzell erstellt. Begleitet wurden wir von einem GWÖ-Berater.
Auf welche Schwierigkeiten sind Sie dabei gestoßen?
Unsere wichtigsten Lieferanten mussten Fragebögen zu ihrem Beitrag zum Gemeinwohl ausfüllen. Damit haben sie sich zum Teil sehr schwergetan. Einige waren begeistert von der Gemeinwohl-Idee und haben die Bögen sehr schnell ausgefüllt, andere haben die Fragen einfach nicht verstanden. Da hieß es zum Beispiel: "Achten Sie in ihrem Betrieb auf die Menschenwürde?" Ich wurde gefragt, was genau damit gemeint sei. Ich habe aber auch jedem Lieferanten angeboten, ihm beim Ausfüllen der Fragebögen zu helfen.
Außerdem sind einige Ideen der Gemeinwohl-Bewegung für mich einfach nicht realistisch. Nehmen Sie zum Beispiel den Punkt Mitentscheidung der Mitarbeiter. Die Villa Orange firmiert als Einzelunternehmen, und ich bin die alleinige Inhaberin. Die Idealvorstellung bei der Gemeinwohl-Bilanz ist, dass möglichst viele Mitarbeiter Mitunternehmer und somit am Eigentum beteiligt werden. Meine Mitarbeiter hatten jedoch kein Interesse daran. Sie erklärten mir, dass sie Beruf und Freizeit trennen möchten und das unternehmerische Risiko nicht gerne mittragen würden. In diesem Segment haben wir also nur null Punkte erreicht.

"Angesichts des ­drohen­den Klima­wandels ­sollten die ­Paradigmen ­Wirtschaftswachstum und Gewinnmaximierung infrage ­gestellt ­werden."

Haben Ihre Mitarbeiter denn bei Entscheidungen Mitspracherecht?
Ja, selbstverständlich. Bei Anschaffungen beispielsweise entscheiden immer diejenigen mit, die davon betroffen sind. Für den Bereich Housekeeping sind das die Hausdame und mindestens eine Zimmerfrau. Kleinere Anschaffungen entscheidet die Hausdame selbst. Bei der Implementierung einer neuen Hotelsoftware 2018 waren alle Rezeptionsmitarbeiter an der Entscheidungsfindung beteiligt.
Zu welchen Veränderungen hat der Prozess in Ihrem Unternehmen geführt?
Wir erfüllten, auch durch die Zugehörigkeit zu den Biohotels, bereits zuvor hohe Anforderungen an das Thema Nachhaltigkeit, etwa in Form von Bioputzmitteln, zertifizierter Naturkosmetik, Ökostrom, Bett- und Frottierwäsche aus Biobaumwolle und 100 Prozent Bio bei allen Lebensmitteln. Wir hatten auch 2018 mit der Whale and Dolphin Conservation eine Plastik-Challenge zum Thema Plastikvermeidung durchgeführt und alle Bereiche des Hotels auf Einsparmöglichkeiten durchforstet. Somit waren wir vor allem beim Wert „ökologische Nachhaltigkeit“ schon gut dabei.
Bei der Auseinandersetzung mit dem Wert der Menschenwürde haben wir im Zuge des Zertifizierungsprozesses dann die Wäscherei gewechselt. Die Mitarbeiter dieses Unternehmens wirkten ständig gestresst und überfordert, und es gab keine Möglichkeit für ein klärendes Gespräch. Auch Outsourcing auf der Etage und Menschenwürde ist oft ein sehr schwieriges Thema. Eine externe Housekeeping-Firma zu finden, die die erforderlichen Maßnahmen umsetzt, ist schier unmöglich. Daher hatte ich von Anbeginn des Hotels immer eigene Housekeeping-Mitarbeiter.
Was kostet es, eine Gemeinwohl-Bilanz zu erstellen?
Die Kosten halten sich in Grenzen. Für die Reisekosten und das Honorar für den GWÖ-Berater sind Kosten in Höhe von maximal 5.000 Euro entstanden. Nicht die Kosten sind das Problem, sondern der Zeitfaktor. Ich habe zu den Treffen, die abwechselnd in unseren drei Hotels stattfanden, immer zwei bis drei interessierte Mitarbeiter mitgenommen. Pro Berührungsgruppe muss man etwa drei Tage einkalkulieren. Und dann müssen ja auch noch die betriebswirtschaftlichen Kennzahlen zusammengetragen werden. Ganz ohne Zahlen geht es in einer Gemeinwohl-Bilanz auch nicht. Am Ende waren es für mich insgesamt 20 Arbeitstage.
Wie viele Punkte sind möglich, und wie viele haben Sie erreicht?
Ein Unternehmen kann maximal 1.000 Punkten erzielen. Die Villa Orange hat im ersten Zertifizierungsprozess 551 Punkte erreicht. Wir haben die Bilanz 2019 für die Jahre 2017 und 2018 erstellt. Unser Testat ist nun zum 31. Dezember 2021 ausgelaufen, wir werden es in diesem Jahr erneuern. Das heißt, die neue Bilanz 2022 wird die Jahre 2020 und 2021 analysieren.
Welche Vorteile bringt Ihrem Unternehmen die Gemeinwohl-Bilanz?
Sich mit dem Gemeinwohl zu beschäftigen ist zum einen sehr sinnstiftend und erfüllend. Zum anderen ist man durch den Bilanzierungsprozess für die zukünftigen Herausforderungen besser aufgestellt. Wenn man sich schon vorher mit Gemeinwohl beschäftigt hat, ist es jetzt zum Beispiel leichter, das neue Lieferkettengesetz umzusetzen. Durch unsere Positionierung als Bio- und Businesshotel hatte ich zudem nie Probleme, Mitarbeiter zu gewinnen. Dafür musste ich bislang kein Geld in die Hand nehmen.
Wir haben durch den Prozess viel positive Presseresonanz erhalten, die uns auch den einen oder anderen Gast beschert. Ich habe beispielsweise beim Werte- und Wirtschaftskongress 2021 in Oberursel an einer Diskussionsrunde mit Christian Felber teilgenommen, über die in verschiedenen Medien berichtet wurde.
Interview: Susanne Stauß